Wolfgang Borchert

Der Schweizer Schriftsteller Peter Weber schildert in seinem Roman Die melodielosen Jahre, der nach der Wende 1989 spielt, eine Schulstunde über Wolfgang Borcherts Kurzgeschichte Schischyphusch. »Sie lasen die Strecke, die von Sprachschöpfungen und rhythmischen Doppelungen überquellen wollte, die Heiterkeit übertrug sich, steigerte sich mit jedem Verstolperer.« Das sprachliche Pingpong-Spiel zwischen Ober und Gast habe »den Sprachnerv« der Schüler berührt. Wolfgang Borcherts Sprache, mit der er das Lebensgefühl seiner Generation, der jungen Generation nach dem zweiten Weltkrieg, ausdrücken wollte, beeindruckt noch heute durch ihre Experimentierfreude und immanente Musikalität, die vom damals beliebten »Jazz«, dem Swing angeregt wurde. Zugleich trieb Borcherts Schreiben ein Hunger nach Leben an, dessen Sogwirkung sich der Leser kaum entziehen kann. Der Autor war aufgrund seines sich im Krieg entwickelnden Leberleidens ans Krankenbett gefesselt, als die Geschichten entstanden.

Weitere Gründe, diesen Autor zu lesen, führt der Hamburger Lyriker Peter Rühmkorf an: »Wolfgang Borchert ist immer schon mehr und immer etwas anderes gewesen als ein Fall der Literatur oder ein Gegenstand der Literaturwissenschaft. Wer ihn auf der Schule zum Wahldichter nahm, ihn einer Dissertation für würdig befand oder sein Theaterstück (›das kein Theater spielen will‹) für die Studentenbühne  inszenierte, meinte selten den Schreibekünstler allein, er meinte die gemeinsame Sache; und wo sich jemand auf die Sache berief, nahm er gleichzeitig auch den Menschen, die Person für sich in Anspruch.« (Über das Fressen und die Moral – zu einem Leitmotiv bei Wolfgang Borchert) Rühmkorf bezieht sich zum einen darauf, dass Borchert aufgrund seiner mangelnden Anpassung und seiner jugendlichen Freude an Selbstdarstellung mit den Machtstrukturen der nationalsozialistischen Herrschaft zusammengestoßen und mit dem Tode bedroht wurde. Dies eröffnete Borcherts Generation und nachfolgenden Lesern Möglichkeiten zur Identifikation. Zum andern bezieht sich  Rühmkorf auf die immer noch aktuelle Schlussfolgerung, die der Autor aus seinen Kriegserfahrungen zieht: nie wieder Krieg: »Sag Nein!«

Wolfgang Borchert (1921-1947) hat Gedichte, Kurzgeschichten, Dramen und Essays verfasst. Er gilt als der erste, der, angeregt von amerikanischen short-story-Autoren wie Ernest Hemingway und Thomas Wolfe, das Genre der deutschen Kurzgeschichte neu begründet hat. Er bringt in den Geschichten seine existenziellen Grunderfahrungen zum Ausdruck: den Zusammenstoß mit der Macht, die Identitätskrise des jungen Menschen nach dem Zusammenbruch von Naziherrschaft und ihrer Ideologie, das Ausgesetztsein an Vernichtung und Tod im Krieg, das Schuldbewusstsein aufgrund der eigenen Anteile am Krieg, sowie die Enttäuschung über die ältere Generation, die mehrheitlich Diktatur und Krieg hingenommen hatte. Aus diesen Erfahrungen ergab sich für Borchert das Grundgefühl einer »Generation ohne Abschied«. Er schrieb Gefängnis-, Kriegs-, Heimkehrer- und Familiengeschichten. Zudem ist er als Autor seiner Heimatstadt Hamburg eng verbunden. Er schrieb hymnische Texte auf sie (»Hamburg, das ist mehr als ein Haufen Steine«) in einer Zeit, in der sie durch die Luftangriffe der Alliierten fast völlig zerstört war.
 
Borcherts größter Erfolg ist sein Drama Draußen vor der Tür (1947), die Geschichte eines Heimkehrers, der in der Gesellschaft, in die er kommt, keinen Platz findet, weil er an den Krieg und die Verwicklung jedes Einzelnen in ihn erinnert, wovon um des eigenen Überlebens willen niemand mehr etwas wissen will. Das Kriegstrauma, mit dem die Hauptfigur Beckmann nicht fertig wird, macht ihn zum Außenseiter und treibt ihn zu einem Selbstmordversuch, der scheitert. Mit ihm beginnt das Drama. Im Gegensatz zu den anderen Heimkehrerhörspielen und -dramen nach 1945 lässt Borchert das Ende offen und damit die Frage, ob eine Integration Beckmanns überhaupt gelingen kann. Das Drama und die Prosa Borcherts schildern die Verwicklung in Krieg und Diktatur von unten, in der Perspektive des einfachen Mannes. Aufgrund der Konzentration aufs Existenzielle werden die historischen Zusammenhänge – die spezifischen Umstände von Naziherrschaft und zweitem Weltkrieg – nicht mit vergegenwärtigt.

Wolfgang Borchert gilt in der Literaturgeschichte als Mitbegründer der »Kahlschlag«- und »Trümmerliteratur«, die versuchte, die »Wahrheit«  über die eigene Gegenwart realistisch zu vergegenwärtigen in betonter Abgrenzung gegenüber Formen der Verschlüsselung und Überhöhung. Eine nüchtern-realistische Sprache musste sich Borchert aber erst mühsam erarbeiten, weil sie durch die nationalsozialistische Ideologie und Machtausübung weitgehend geprägt war.

Wolfgang Borcherts Werk ist bis heute als Gesamtwerk oder in preiswerten Einzelausgaben erhältlich, von denen der Band Draußen vor der Tür und ausgewählte Erzählungen mit einem Nachwort Heinrich Bölls (zuerst 1956) hervorgehoben sei. Dieser Band gehört mit weit über zweieinhalb Millionen Auflage zu den meist verkauften Taschenbüchern im deutschen Sprachraum. Das Gesamtwerk ist 2007 von Michael Töteberg unter Mitarbeit von Irmgard Schindler neu herausgegeben worden. Es enthält nicht die »Jugenddramen«, deren Edition über die Gesellschaft bezogen werden kann. Neben der kongenialen Biographie von Peter Rühmkorf (Wolfgang Borchert, 1961) ist im Handel die in Details verlässlichere Biographie von Gordon Burgess erhältlich: Wolfgang Borchert. Ich glaube an mein Glück (2007). Wer sich genauer informieren will, studiere die Jahreshefte der Gesellschaft und ihre weiteren Publikationen sowie die Bibliographie.

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