So viel Borchert war nie

Eine persönliche Zeitreise zu ausgewählten Ereignissen

anlässlich von Borcherts 100. Geburtstag

von

Hans-Ulrich Wagner

Borchert wird 100 – und seine Heimatstadt feiert

 

15. Februar 2021: Redaktionsschluss für das Festivalprogramm der Hamburger Behörde für Kultur und Medien. Was für eine schöne Neuauflage einer Veranstaltungsreihe, die vor ein paar Jahren als „Eine Stadt liest ein Buch“ gestartet war. Jetzt, 2021, heißt es: „Hamburg liest Borchert“. Ein reichhaltiges Programm –

online und gedruckt als Leporello im charakteristischen Gelb.

Wie begeistert man für einen Hamburger Autor, der 1921 geboren wurde?

 

17. März 2021: Auf dem Messenger-Dienst „Telegram“ läuft ein gif: Count-Down – „In 10 Wochen ist es soweit!“ verkündet Nefeli Kavouras, die viele kreative Ideen in das Team der Hamburger Kulturbehörde um Antje Flemming einbringt. Nefeli Kavouras ist „Literaturvermittlerin“ und die Begeisterung für diese Aufgabe merkt man sofort. Der „Telegram“-Kanal „Hamburg liest Borchert“ wird in den folgenden Wochen noch sehr häufig klingeln.

 

 

Ping … Ping … Ping …

 

1. April 2021: Nicht nur an diesem Tag gehört der Abend dem „Telegram“-Chat von Nefeli Kavouras. Diesmal hat sie Konstantin Ulmer zu Gast, den Ausstellungsmacher der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg. Die neue gläserne „Borchert-Box“ ist in Vorbereitung. Es macht Spaß mitzulesen, was die beiden im Chat schreiben, und zu erleben, wie sich ein spannendes, lebendiges Gespräch entwickelt. Was für eine schöne moderne Form, auf Literatur aufmerksam zu machen. Ich empfehle den Kanal gleich mehreren Kolleg*innen. Übrigens Stand, 30. Mai 2021, folgen 107 Personen den Chats.

Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg

 

Vom 7. April 2021 an steht die Ausstellung „Wund-Bilder“ von Walter Raum (1923-2009). Der Besuch der Ausstellung in der Staats- und Universitätsbibliothek ist einer der Wünsche für die Zeit nach Corona. Bis dahin geben die Online-Vorträge von Tobias J. Raum „Walter Raum – der verwundete Mensch" und von Hans-Gerd Winter „Walter Raum und Wolfgang Borchert – Die Wund-Bilder und der Knochen-General“ einen Eindruck.

 

Von wegen Unkraut

 

15. April 2021: Was für eine liebevolle Idee – in Hamburg wird Löwenzahnsamen in gelben Tütchen verteilt. Den säe ich zwar dann doch nicht aus, aber die Saat geht zumindest literarisch auf: Ich greife zur Werkausgabe und lese wieder Wolfgang Borcherts klassische Kurzgeschichte „Die Hundeblume“. Starker Text; vielschichtige short story.

Corona-Zeiten – statt ins Theater zu gehen, kommt das Theater nach Hause

 

20. April 2021: Corona macht‘s am Esstisch möglich: Online-Lesung mit Musikbegleitung. Mobilphone-Screenshot von 19.43 Uhr: Im „Theater im Zimmer“ in Hamburg führen Stella Roberts und Jens Wawrczeck mit ihrer Performance durch Borcherts Leben und Werk. Natalie Böttcher am Akkordeon und Johannes Kirchberg am Klavier begleiten musikalisch. Tolle Dramaturgie von Sonja Valentin und Hans-Gerd Winter. Auch auf Twitter ist man begeistert, z.B. @stabiHH, 20.4.2021: „Großartig, wie Stella Roberts die Texte von Borchert liest“. Like!

Location Hamburg

 

26. April 2021: Geplant war natürlich eine kleine Tagung in der „Stabi“. Doch Corona erzwingt, dass das dreistündige Programm der Internationalen Wolfgang-Borchert-Gesellschaft online stattfindet. Nun denn, man ist inzwischen professionell für Zoom-Konferenzen gerüstet. Lesungen, Vorträge – darunter von Hermann Breitenborn, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Forschungsstelle Mediengeschichte und enthusiastischer Filmhistoriker. Er zeigt, wie der Berliner Filmemacher Michael Blume Texte von Borchert umsetzt, Bilder entwirft, beklemmende Bilder, häufig in Schwarz-Weiß, minimalistisch, aufs Wesentliche reduziert.

Dissonanzen

 

11. Mai 2021. Endlich ist es soweit: Die sogenannte „Borchert-Box“ wird eröffnet. Konstantin Ulmer von der Staats- und Universitätsbibliothek hat sie mitkonzipiert und er hat als Kurator eine moderne multimediale Ausstellung konzipiert. „Dissonanzen“ ist sie vielversprechend übertitelt. Ich sehe mir natürlich die Eröffnungsübertragung an. Auf YouTube ist das Video abrufbar. Das Echo auf die neue „Borchert-Box“ ist in der Presse überaus positiv.

Der Autor des Laternentraums

 

17. Mai 2021: Morgenlektüre – der Hamburg-Newsletter der „ZEIT“, die „Elbvertiefung“. Auch hier wird Borchert gefeiert. Redakteur Florian Zinnecker macht sich sicherlich mit seinem Anti-Fußball-Geständnis keine Sports-Freunde, aber mit seiner Hommage an Borcherts „Laternentraum“ viele Literatur-Freunde. Am nächsten Tag berichtet er von den Zuschriften, die er erhalten hat (müsste man die nicht im Archiv sammeln?)

Draußen vor den Türen

 

18. Mai 2021: Die „Radiokunst“-Redaktion beim NDR bietet etwas Gewagtes: Darf man eine historische Erfahrung der Nachkriegszeit in Analogie setzen? Was bedeutet es, das Heimkehrer-Motiv der Jahre nach 1945 mit Schicksalen von heute zu vergleichen? Das Feature „Draußen vor den Türen“ von Tabea Sörgel und Martin Becker umschifft die Klippe. Ein nachdenklich machendes, ein aktuelles Feature entsteht: „Draußen vor der Tür“, so der NDR, wirke „bis heute nach. Es ist ein genaues Porträt der Nachkriegszeit, aber auch zeitlos in seiner schmerzlichen Verlorenheit. Das Feature und die Serie nimmt Versatzstücke des Originaltextes und inszeniert sie neu. Es treten auf Menschen, die heute draußen vor den Türen stehen: kriegserfahrene Bundeswehr-Soldaten, Obdachlose, Geflüchtete.“

Bei der nächsten Fahrradfahrt übern Friedhof ist ein Besuch fällig – versprochen!

 

19. Mai 2021: Morgen hat „Wolfgang“ einhundertsten Geburtstag. Der Vorsitzende der Internationalen Wolfgang-Borchert-Gesellschaft, Professor Dr. Hans-Gerd Winter, legt einen Kranz am Grab Borcherts auf dem Ohlsdorfer Friedhof nieder (Grablage AC 5,6). „Pack‘ das Leben bei den Haaren“ – was für ein schönes Motto. Danke, Hans-Gerd!

„Jetzt ist unser Gesang der Jazz“

 

20. Mai 2021, abends, 23.30 Uhr: Der NDR setzt noch eins drauf. Auf einem meiner Lieblings-Programmplätze „Jazz Round Midnight“ sendet der Hamburger Haussender Jazzklänge „aus jenen Tagen des Aufbruchs aus den Trümmern mit jenem berühmten Text, den der Schauspieler Uwe Friedrichsen 1984 für den NDR eingesprochen hatte. Die Musik, die aus den USA ins zerstörte Land der Täter gelangte, trifft auf die letzten Worte des jungen deutschen Dichters, der anschrie gegen den Untergang.“ Schöner Aus-Klang von WoBos Geburtstag.

Einfach nur peinlich

 

22. Mai 2021: Auch das kommt vor. Menschen, die offensichtlich noch nie etwas von Borchert gelesen haben, schreiben über ihn. Besonders peinlich: Im wöchentlichen Newsletter einer großen Hörspieldramaturgie in Deutschland wird der „Rückkehrer-Roman“ „Draußen vor der Tür“ als literarisches Nachkriegsereignis gefeiert und Beckmann als „Roman-Held“ vorgestellt. Hörspiele spielen für Hörspielredakteur*innen offensichtlich keine besondere Rolle mehr.

332 – 132 – 93: Was für ein schönes Geschenk

 

Der gesamte Borchert-Nachlass digitalisiert und online: 332 x Briefe von Wolfgang Borchert; 132 x Werkmanuskripte; 93 x Fotos und Graphik von Borchert. Was für ein schönes Geschenk der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg! Da werde ich zwar noch genauer stöbern, aber mein Lieblingsmanuskript habe ich gleich schon mal herausgesucht: „Dann gibt’s nur eins!“. Zur „Sag nein“-Litanei rufe ich auf YouTube zum x-ten Mal Ezé Wendtoins Musikvideo „Sage Nein!“ auf, mit der Musik von Konstantin Wecker.

Eine blaue Blume lindert jeden Hass

Lesung an Borcherts Grab mit Esther Bejarano und Johann Voß

im Rahmen von »Hamburg liest Borchert«

 

Bei der Veranstaltung am 5. Juni 2021, bei der Teilnehmende dazu aufgerufen worden waren, eine blaue Blume mitzubringen, widmete sich Esther Bejarano den »Lesebuchgeschichten«, während Johann Voß aus Gedichten und Kurzgeschichten sowie eine Szene aus »Draußen vor der Tür« und das Manifest »Dann gibt es nur eins!« vortrug.

 

Die Lesung - einer der letzten Auftritte der am 10. Juli 2021 verstorbenen Esther Bejarano - ist hier auf Video verfügbar.

Eine Rose für Borchert

Diesjährige Aktion des Vereins Literaturlandschaften e.V.

 

Der überregional tätige Verein Literaturlandschaften e. V. ruft in jedem Jahr Literaturfreunde im In- und Ausland sowie literarische Einrichtungen und Institutionen dazu auf, am ersten Juniwochenende an einem Grab oder einem Denkmal einer Schriftstellerin oder eines Schriftstellers eine Rose niederzulegen und damit an die Person und das Werk zu erinnern.

Das diesjährige Rosenmotto war »Kleine blasse Rose«, die Eingangszeile eines Gedichts von Wolfgang Borchert.

Eine Rose für die Dichter 2021.pdf
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100 Karten für Wolfgang Borchert

Eine Ausstellung in Eppendorf

 

Die Kunstklinik in Hamburg-Eppendorf hatte dazu aufgerufen, zu Borcherts 100. Geburtstag »100 Postkarten an den Dichter« zu schreiben. Nachdem die Karten zunächst in der Antiquitätenhandlng Brundert in Borcherts Geburtshaus zu sehen waren, sind sie jetzt in der Kunstklinik ausgestellt: Martinistraße 44a, 20251 Hamburg

Fotos: Johanna Ohde

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